Das stetig wachsende Problem der westlichen Welt ist das Übergewicht. Während wir Europäer früher die Amerikaner belächelt haben, weil bei denen die Flugzeuge aufgrund des zu hohen Gewichts der Passagiere nicht mehr abheben konnten, sind die Deutschen heute selbst Spitzenreiter, wenigstens auf europäischer Ebene. Das Ranking und die Prozentzahlen variieren je nach Jahr und Quelle, die Fakten bleiben aber hart: Rund 70 % der deutschen Männer und mehr als die Hälfte der Frauen sind übergewichtig (body mass index, BMI > 25 kg/m2). Die Fettleibigkeit (Adipositas, BMI > 30 kg/m2) betrifft mittlerweile jeden fünften Deutschen. Leider macht diese Entwicklung vor den Kindern auch nicht Halt. Laut der KIGGS-Studie des Robert-Koch-Instituts (2003-2009) sind 15 % der Kinder zwischen 3 und 17 Jahren übergewichtig, das sind rund 1,9 Millionen Kinder und Jugendliche. Rund die Hälfte davon ist sogar fettsüchtig.
Was verbirgt sich hinter diesen trockenen Zahlen? Stellen Sie sich ein Kind vor, das den Oberkörper nicht mehr nach vorne beugen kann, um seine Zehen mit den Fingerspitzen zu berühren. Die Betonung dabei liegt auf Kind, dem Inbegriff der Aktivität und Gelenkigkeit. Mittlerweile betrifft das jedes sechste Vorschul- und Schulkind. Das ist der Tribut, den wir, nein unsere Kinder, für Nutellabrote und Fertigpizzen mit Softgetränken bezahlen.
Das Übergewicht ist leider nicht nur ein kosmetisches Problem. Die Palette der Folgeerkrankungen ist lang: Begonnen mit Gelenkproblemen, Bluthochdruck, Diabetes, Atemaussetzer in der Nacht bis hin zu erhöhten Krebsraten. Die jährlichen Behandlungskosten liegen zwischen 10 und 20 Milliarden Euro. Im Vergleich mit den Kosten des Rauchens immer noch bescheiden, die Zahl steigt jedoch stetig.
Die Risikofaktoren sind offensichtlich und jedem klar, auch ohne dass man eine Expertengruppe um Rat fragen muss: Mangelnde Bewegung und falsche Ernährung.
Es gibt jedoch mindestens noch einen unbeachteten Faktor, der eine wesentliche Rolle zu spielen scheint. Das Vitamin D.
Denn es gibt eine Reihe von Untersuchungen, die den Vitamin-D-Status und den BMI, den Bauch- bzw. Hüftumfang und weitere Faktoren beleuchten. Die Arbeit von Kendra A. Young und Kollegen aus dem Jahr 2009 findet eine inverse Korrelation zwischen der Vitamin-D-Konzentration im Serum und dem Körperfettanteil bei Afroamerikanern und Amerikanern spanischer Abstammung (Young et al., 2009). Das bedeutet konkret, je weniger Vitamin D im Serum umso höher ist die Wahrscheinlichkeit für Übergewicht. Ähnliches gilt für die weisshäutigen Amerikaner. Im Rahmen der Framingham-Herz-Studie wurden 3890 Bewohner der Stadt Framingham untersucht, die zu 99,5 % weisshäutig sind und europäische Vorfahren haben. Hierbei wurde festgestellt, dass Vitamin-D-Mangel mit einem höheren BMI und stärkeren Fettablagerungen assoziiert ist (Cheng et al., 2010). Am anderen Ende des Ozeans sieht es nicht anders aus. Eine Untersuchung an 601 nichtdiabetischen Chinesen brachte ans Tageslicht, dass auch im Land der aufgehenden Sonne ein Vitamin-D-Mangel zu höherem BMI und grösserem Bauchumfang führt (Yin et al., 2012). Als letztes bleibt der mitteleuropäische Teil. Als Beispiel soll eine Untersuchung aus St. Petersburg in Russland dienen. Die Autoren kommen zu der Schlussfolgerung, dass niedrige Vitamin-D-Spiegel mit hohem Fettanteil korrelieren (Grineva et al., 2013). Damit wären fast alle Kontinente und Ethnien abgedeckt, und man kann mit Fug und Recht behaupten, dass es eine weltweite Korrelation zwischen niedrigem Vitamin-D-Spiegel und Fettleibigkeit gibt. Aber auch nicht mehr. Ob es sich beim Vitamin-D-Mangel um die Ursache oder um die Folge der Fettleibigkeit handelt, ist damit nicht geklärt. Die meisten Arbeiten auf diesem Gebiet favorisieren die Theorie, dass Übergewicht die Ursache für den Vitamin-D-Mangel darstellt. Erklärt wird das damit, dass das fettlösliche Vitamin D in den Fettdepots gebunden wird und dadurch der Serumspiegel sinkt. Zusätzlich wird angenommen, dass übergewichtige Menschen sich weniger bewegen und zum Beispiel aus Scham ihren Körper nicht dem Sonnenlicht aussetzten.
Das mag alles zutreffen, es gibt jedoch einige Belege, die eine kausative Rolle des Vitamin D nahelegen.
Fangen wir damit an, dass Fettzellen über einen Vitamin-D-Rezeptor (VDR) verfügen, womit wenigstens rein theoretisch eine Möglichkeit gegeben ist, wie Vitamin D auf die Physiologie der Fettzellen einen Einfluss ausüben kann (Sun and Zemel, 2008). Aus in vitro-Untersuchungen ist bekannt, dass 1,25-Dihydroxycholecalciferol (1,25(OH)2D) das Absterben der Fettzellen und den Abbau des Fettgewebes reguliert. Des weiteren kann die Reduktion der 25(OH)D-Konzentration über das Parathormon zu einer gesteigerter Lipogenese (Fettbildung) und einer verminderter Lipolyse (das Auflösen von Fett) führen (Grineva et al., 2013). Darüber hinaus induzieren niedrige Konzentrationen von Vitamin D die Umwandlung von Skelettmuskelzellen in Fettzellen (Ryan et al., 2013)!! Außerdem gibt es Hinweise darauf, dass das Renin-Angiotensin-System (RAS) durch einen Mangel an Vitamin D aktiviert wird. Das Angiotensin steigert seinerseits die Produktion von Fett in Kulturzellen von Menschen und Mäusen. Das Entfernen des Rezeptors für Angiotensin reduziert die Grösse der Fettzellen und schützt vor ernährungsbedingter Fettleibigkeit und Insulin-Resistenz (Vinh Quoc and Nguyen, 2013).
Als Ergänzung zu den trockenen theoretischen Daten sei an dieser Stelle noch eine interessante Studie der Universität Minnesota aus dem Jahr 2009 vorgestellt: Unter Leitung von Shalamar Sibley wurde untersucht, wie sich die Vitamin-D-Gabe auf das Abnehmen auswirkt. Dabei kam heraus, dass bei gleicher kalorienreduzierter Diät diejenigen Teilnehmer größere Erfolge erzielt hatten, die höhere Vitamin-D-Spiegel im Blut aufweisen konnten. Je mehr Vitamin D im Blut, umso mehr Kilos purzelten herunter. Die Teilnehmer mit den höchsten Vitamin-D-Werten verloren auch am meisten Fett in der Bauchregion. Dr. Sibley folgert daraus, dass Vitamin D-Spiegel als Prädiktor für den Abnehmerfolg betrachtet werden kann. Und zwar ausdrücklich für den Verlust des Fettanteils, denn in dieser Untersuchung gab es keinerlei Hinweise darauf, dass z.B. die Muskelmasse sich verringert hatte.
Ich hoffe, dass diejenigen von uns, die unter Übergewicht leiden, diesen Artikel als eine zusätzliche Motivation nutzen können. Vielleicht war die niedrige Konzentration dieses Hormons eine der Ursachen für das Scheitern der vorherigen Versuche, das Normalgewicht zu erreichen. Als angenehmer Nebeneffekt spielt das 1,25(OH)2D ausserdem eine positive Rolle bei Multipler Sklerose, Bluthochdruck, Krebs, Entstehung von Diabetes, der Regulierung des Immunsystems und vielem mehr.
In diesen Artikel wurde zuerst eine Tatsache beleuchtet, nämlich dass es eine Korrelation zwischen dem Vitamin D-Mangel und dem Übergewicht gibt. Anschließend wurden einige zelluläre Mechanismen vorgestellt, wie dieses Hormon zu einer Vermehrung des Fettgewebes führen kann. Um die Betrachtung abzurunden, benötigt man nun eine Hypothese, die den biologischen Sinn erklärt, warum ein Vitamin D-Mangel zum Übergewicht führt.
An dieser Stelle sei auf die Theorie von Jeff T. Bowles verwiesen, die eine sehr elegante und logische Erklärung für viele Phänomene aufzeigen kann, die mit dem Vitamin D-Mangel in Verbindung stehen. Dieser Theorie liegt der Umstand zugrunde, dass Vitamin D eigentlich ein Hormon ist, das durch die Sonneneinstrahlung in der Haut gebildet wird. Im Herbst sinkt die Produktion, weil die Tage kürzer werden und der Sonnenstand sich ändert. Die Absenkung des Vitamin-D-Spiegels ist ein Signal für das Herannahen des kalten, entbehrungsreichen Winters mit beschränkten Ressourcen. Der Körper reagiert darauf mit gesteigertem Appetit, um möglichst schnell ein Fettpolster anzulegen, das sowohl vor der Kälte als auch vor dem Hungertod schützt. Des Weiteren schaltet der Körper auf ein Sparprogramm um, indem er die sämtlichen Stoffwechselvorgänge verlangsamt und zusätzlich den Bewegungsdrang reduziert. Eine der Folgen des Vitamin-D-Mangels sind nämlich Depressionen, die uns davon abhalten sollen, das Haus / die Hölle zu verlassen.
Zuletzt bleibt ein Phänomen zu erwähnen, das als das „Unvollständige-Reparatur-Syndrom“ bezeichnet wird. Es besagt, dass der Körper im Winter mit einer Knappheit der Ressourcen rechnet und somit nur so viel davon verbraucht, wie zum Überleben gerade nötig ist, aber auch nicht mehr. So werden Verletzungen nur notdürftig repariert, denn es ist ja nicht ausgeschlossen, dass im Laufe des Winters weitere „Baustellen“ auftreten. Was nützt zum Beispiel ein perfekt geheilter Armbruch, wenn für das Herzkreislaufsystem keine Kapazitäten mehr frei bleiben und der Organismus daran sterben muss?! So erklärt der Autor die Entstehung der Vielzahl von Erkrankungen, die durch einen permanenten Mangel an Vitamin D auftreten. Besteht die latente Unterversorgung über mehrere Jahre, so kummulieren sich die vielen kleinen „unvollständigen-Reparaturen“ und treten als manifeste Pathologien ans Tageslicht.
Reference List
Cheng,S., Massaro,J.M., Fox,C.S., Larson,M.G., Keyes,M.J., McCabe,E.L., Robins,S.J., O'Donnell,C.J., Hoffmann,U., Jacques,P.F., Booth,S.L., Vasan,R.S., Wolf,M., and Wang,T.J. (2010). Adiposity, cardiometabolic risk, and vitamin D status: the Framingham Heart Study. Diabetes 59, 242-248.
Grineva,E.N., Karonova,T., Micheeva,E., Belyaeva,O., and Nikitina,I.L. (2013). Vitamin D deficiency is a risk factor for obesity and diabetes type 2 in women at late reproductive age. Aging (Albany. NY) 5, 575-581.
Ryan,K.J., Daniel,Z.C., Craggs,L.J., Parr,T., and Brameld,J.M. (2013). Dose-dependent effects of vitamin D on transdifferentiation of skeletal muscle cells to adipose cells. J. Endocrinol. 217, 45-58.
Sun,X., and Zemel,M.B. (2008). 1Alpha, 25-dihydroxyvitamin D and corticosteroid regulate adipocyte nuclear vitamin D receptor. Int. J. Obes. (Lond) 32, 1305-1311.
vinh quoc,L.K., and Nguyen,L.T. (2013). The beneficial role of vitamin D in obesity: possible genetic and cell signaling mechanisms. Nutr. J. 12, 89.
Yin,X., Sun,Q., Zhang,X., Lu,Y., Sun,C., Cui,Y., and Wang,S. (2012). Serum 25(OH)D is inversely associated with metabolic syndrome risk profile among urban middle-aged Chinese population. Nutr. J. 11, 68.
Young,K.A., Engelman,C.D., Langefeld,C.D., Hairston,K.G., Haffner,S.M., Bryer-Ash,M., and Norris,J.M. (2009). Association of plasma vitamin D levels with adiposity in Hispanic and African Americans. J. Clin. Endocrinol. Metab 94, 3306-3313.
http://www.ifb-adipositas.de/ifb/blog/immer-mehr-adip%C3%B6se-menschen-deutschland
http://www.ifb-adipositas.de/presse/adipositas-zahlen
Jeff T.Bowles: "Hochdosiert: Die wundersamen Auswirkungen extrem hoher Dosen von Vitamin D3", Mobiwell-Verlag, ISBN-13: 978-3981409895
KIGGS Kinder und Jugend Gesundheitssurvey; www.kiggs-studie.de